Der alte Baum

Im Laufe der vielen Jahre wurden seine Äste müde, das Blattwerk dünn, die Rinde runzlig und der Stamm morsch. 

Die Zweige bogen sich nicht mehr geschmeidig im Wind wie in der Jugend als alles noch anders war. 

Was hatte der alte Baum nicht schon alles gesehen. Die lodernden Flammen, die drohten ihn zu verschlingen, die röhrenden Kanonen, die kein Erbarmen kannten. Das Rasseln der Säbel, die Schreie der sterbenden Menschen, der Klang der Totenglocken, die Seuchen und Hungersnöte.

Aber auch die tanzenden Kinder, die verliebten Jungen und Mädchen, die mit erröteten Wangen Herzen in seine straffe Rinde schnitzten. 

Die Liebespaare, die im Schutze seiner dichten Belaubung die ersten schüchternen Liebkosungen austauschten. Die Hochzeitsglocken. Die glückliche junge Frau im Brautkleid, die bald gebückt und gebrechlich mit ihrem Korb an seinem kräftigen Stamm Ruhe suchte. 

Die Bären, die ihren Rücken an ihm rieben und bald nie mehr gesehen wurden.

Die Vögel auf seinen Zweigen, die voller Begeisterung ihre Lieder übten, die Rehe und Hasen, die auf den satten Wiesen tollten. 

Die Kinder, die sorglos um ihn herum tanzten und die Wanderer, die ihre Picknickdecken in seinem Schatten ausbreiteten. 

Er sah den weiten dichten Wald, der einer radikalen Urbarmachung weichen und Feldern und Häusern Platz machen musste. 

Was einst seine Krone stolz und erhaben überblickte an üppigem Grün zeigte sich als allzu vergänglich. 

Der Mensch rodete, pflanzte, spannte Zäune, baute Straßen. 

Wenn Menschen früher Blumen und Kinder mal ihren Teddy verloren, so waren es jetzt Flaschen und Tüten, Blech und Plastik. 

Die Wiesen färbten sich bedenklich braun und keiner hörte angeblich das verzweifelte Seufzen der sterbenden Gräser. Nur er hörte sie, er sah ihr letztes qualvolles Aufbäumen, den Schrei nach Menschlichkeit und Würde, den letzten Versuch zu überleben. 

Er sah wie das Schwache dem Starken weichen musste und er sah, wie auch er schwach wurde. 

Einst trotzte er dem Schnee, hielt sein Gesicht dem Eiswind entgegen, lachte und schüttelte kraftvoll in jedem Frühling den Winter aus seinem Gewand, erhob und streckte sich, widerstand allen Unwirtnissen, bot seine Stirn jedem Parasit und Verführer. 

Doch was in jugendlichen Jahren biegsam dem Sturm trotzte, ächzte und knarrte nun bedenklich. Die Rinde riss auf, der saure Regen schmerzte auf den Blättern, die Wurzeln brannten und das Atmen viel so schwer. 

Seine Kameraden und Freunde waren schon lange gegangen und nun schien auch seine Zeit gekommen, denn seine Krone senkte sich traurig bodenwärts. 

Die Wunden bluteten schon lange nicht mehr. Er war zu alt um all dies noch zu verstehen. 

Doch wie er so betrübt auf den Boden blickte sah er auf einmal einen kleinen Trieb, der seine Blätter frech aus der Erde erhob, ein neuer Spross von seiner Art und Gattung, ein Teil von ihm, gesund und biegsam wie einst er selbst. 

Mit der Beschwingtheit und Sorglosigkeit der Jugend entfaltete er sein hoffnungsvolles zartes Blattgeflecht, lachte die Sonne an und grüßte den alten Baum. 

Da war wieder Hoffnung. Mit einem letzten Lächeln brach der mächtige Stamm des Baumriesen in sich zusammen, aber so, dass er einen schützenden Wall um den kleinen Baum bildete. 

Sein Leben war erfüllt.