Der alte Philosoph

 

 

Ein Philosoph ist ein Mensch, der über das Leben an sich und über dessen Sinn nachdenkt. Dieser Philosoph nun, von dem ich berichte, lebte einst in einer Höhle, weit ab von jeder Ansiedlung, um in Ruhe  über sich und die Welt meditieren zu können.

Das wenige, was er zum Leben benötigte, schenkte ihm die Natur. Zu frieren brauchte er nicht, denn wo er lebte, währte der Sommer ewig. Fleisch und Fisch lehnte er strikt ab, denn er wollte kein Tier töten. Töten bedeutete für ihn ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur.

Des Öfteren kamen Neugierige, zu sehen wie er lebte, aber auch Hilfesuchende, die ihn um Rat baten, denn er war weit über seine Landesgrenzen hinaus als weiser Mann bekannt. Keiner kannte sein tatsächliches Alter, wenn sein Bart auch bis weit über seine Hüften herabreichte.

Als Entgelt für erhaltenen Rat brachten die Fremden oft Fleisch und Mehlspeisen mit, die der Einsiedler allerdings höflich und bestimmt stets ablehnte. Er beantwortete die an ihn gestellte Fragen bereitwillig und ohne Bezahlung. Jedoch nur zu bestimmten Tageszeiten, denn mit dem Einbruch der Nacht legte er sich Schlafen und stand erst nach dem Hellwerden auf.

Die Wanderer hingegen feierten bis tief in die Nacht, tranken und schlugen sich den Bauch voll. Dabei lachten sie insgeheim über den alten Narren, der all die Leckerbissen verschmähte.

Im Laufe der Jahre aber wurden die Besucher stutzig. Erzählten doch schon ihre Urgroßeltern von diesem merkwürdigen Alten. Jene aber waren schon seit weit über 100 Jahren verstorben und der Einsiedler lebte immer noch und machte dabei einen rüstigen Eindruck.

Schnell tuschelte man, er sei mit den Göttern der Finsternis verbündet, die diesem ein ewiges Leben bescherten. Die bisherige leicht spöttische aber respektvolle Achtung wich dem Gefühl des Argwohns und auch des Neides.

Waren nicht all seine Ratschläge mit übler Absicht, so er doch mit der Unterwelt in Verbindung stand? Dies ging den Verunsicherten nicht mehr aus dem Kopf, sie sahen in ihm jetzt eine Gefahr.

Um sich Klarheit zu verschaffen, rückten 30 starke Männer, schwer bewaffnet, gegen seine Höhle vor, um diese zu belagern. Erst wenn der Höhlenbewohner seine Beziehung zu Dämonen der Unterwelt gestanden hätte, wollten sie ihm wieder Nahrung zukommen lassen und über ihn Gericht halten. In die Höhle einzudringen, trauten sich die Verblendeten jedoch nicht.

Es verstrichen 20 Tage und die Unruhe der Belagerer wuchs. Als dann weitere 20 Tage vorüber waren, hielten sie es nicht mehr aus und beschlossen, in die Höhle einzudringen. Zaghaft, ohne jegliche Vorsicht auszulassen, tasteten sie sich immer tiefer in die Höhle hinein, bis, ja bis sie auf einmal vor dem Alten standen, der sich gerade einige Trauben schmecken ließ. Erstaunt und zugleich wütend, weil sie einen Verräter unter sich vermuteten, der den Philosophen heimlich mit Nahrung versorgt hatte, wollten sie mit Waffengewalt ein Geständnis von dem Bedrängten erzwingen, als durch den Lärm ein Hirsch an ihnen vorbeisprengte, im Geweih ein paar Weintraubenreben.

Es waren seine Freunde die Tiere, die dem Alten mit Früchten dankten, daß er ihr Leben schonte. Des nachts schlichen sie sich heimlich an den Wachposten vorbei und gelangten unbemerkt zu dem Einsiedler.

Der Philosoph rief den Eindringlingen zu: „Ihr tötet die Tiere wie eure Feinde und tötet damit euch selbst!“

Die aber lachten nur und erwiderten: „So sollst auch du sterben am Genuß von totem Fleisch!“

Um ihn zu demütigen, zwangen sie den Alten gebratenes Fleisch hinunterzuwürgen und warfen ihn dann zurück auf sein Lager. Sie glaubten natürlich nicht, daß sie ihn damit töten würden, aber am nächsten Tag fanden sie den Greis tot vor, vollkommen verkrampft und zusammengekauert.

Der edle Mensch, der nie Fleisch gegessen hatte, starb an den Giften, die das Fleisch bei der Verdauung freisetzte. Stoffe, die in seinem Körper wie das tödliche Gift einer Schlange wirkten. Vom Gewissen nun doch geplagt, wollten sie den Leichnam zu Grabe tragen mit all seinem Hab und Gut, damit er in der Anderswelt nichts vermisse.

Dabei fanden sie alte Tontafeln mit Aufzeichnungen des Philosophen, über Geschehnisse, die über 150 Jahre zurückreichten. Dies bewies ihnen, daß der ehrwürdige Alte auch dieses Alter haben mußte, was anscheinend nur auf seine Lebensweise zurückzuführen war.

Ein Leben, das geprägt war vom Einklang mit der Natur. Wer weiß, wie alt dieser tugendhafte Greis noch hätte werden können, wenn nicht die Mißgunst der Neider ihn getötet hätte?