Der verlorene Haufen

Man schrieb das Jahr 1623. Ein zerlumpter Haufen englischer Soldaten mühte sich durch die mörderische Wildnis des Appalachengebirges. 

Ausgezehrt, fast irr vor Hunger und nahezu kraftlos, suchte der kleine Trupp seinen Weg zurück zum Fort, das er vor vier Wochen verlassen hatte, um nach Westen vorzustoßen, französische Truppenbewegungen zu beobachten. 

Doch sie gerieten in einen Hinterhalt und wurden völlig aufgerieben. Nur acht Mann konnten fliehen, immer auf der Hut vor Franzosen und deren verbündeten Indianern. 

Nachts marschierten sie und tagsüber versteckten sie sich in Höhlen oder dichtem Gebüsch. Aus Angst entdeckt zu werden, schossen sie kein Wild, sondern ernährten sich ausschließlich von Beeren, Moos, Baumrinde und Gräsern. 

Eines Morgens gelangten sie völlig erschöpft an einen gurgelnden Fluß, als sie plötzlich das entsetzte Schreien einer weiblichen Stimme und das verzweifelte Rufen eines Kindes vernahmen. 

Der Trupp erkannte sofort den Grund für diese Angstschreie: Ein kleines Indianerkind trieb hilflos in den erbarmungslosen Fluten des Wildbaches. Weiter hinten stolperte eine Indianerin am Ufer entlang, bemüht, das treibende Kind einzuholen, doch das Ufer war zu unwegsam, als dass sie es hätte erreichen können. 

Zufrieden grunzte einer der Soldaten: „Prima, eine Rothaut weniger!“ 

Doch der Truppführer, ein Lutenant, ein jüngerer Mann mit ehrlichen braunen Augen, entledigte sich sofort seines Waffengurtes und stürzte sich ungeachtet der Gefahren in die reißenden Wogen. 

Er nahm all seine ihm verbliebenen Kräfte zusammen, packte das Kind am Fuß, zog es an sich heran, hob den Kopf aus dem Wasser und steuerte auf das Ufer zu. 

Doch seine Kräfte waren beinahe am Ende. Hätten seine Kameraden sich nicht in letzter Sekunde besonnen, ihnen zu helfen und ein Seil zugeworfen, in dessen Schlaufe der wagemutige Lebensretter sich einhaken konnte, er und das Kind wären verloren gewesen. 

Nach und nach zogen die ermatteten Soldaten die beiden an Land, rieben das Kind warm und lehnten den erschöpften Retter behutsam an einen Baumstamm. 

Die Indianerfrau, die alles beobachtet hatte, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, tiefe Angst war ihr auf die Stirn geschrieben, Angst vor den Weißen. 

Der tapfere Anführer aber winkte sie müde herbei und gab ihr zu verstehen, sie solle ihr Kind an sich nehmen und gehen. 

Voller Freude überschüttete die Indianerin die Soldaten mit unverständlichen Wortschwallen und verschwand im Busch, sich immer wieder umdrehend, teils furchtsam aber vor allem aus Dankbarkeit. 

Der Soldat, der das Kind am liebsten tot gesehen hätte machte jetzt dem Lutenant die ärgsten Vorwürfe, denn jetzt wüsste ja wohl bald jeder Indianer in der Gegend wo sie zu finden seien und das bedeute ja wohl das Ende des kleinen Trupps. 

„Nun!“, sagte der Lutenant bestimmt, „wir haben unsere Pflicht erfüllt, jeder Mensch ist unser Nächster und genauso viel wert wie du und ich“. 

Dann gab er das Zeichen zum Aufbruch und langsam bewegte sich der elende Haufen auf dem einzigen Weg entlang, der durch die Uferfelsen und Baumriesen hindurchführte. 

Nach Stunden mühseliger Strapazen vernahmen sie ein eindringlich gleichmäßiges Summen, wie der helle Gesang von Engeln. 

Sie glaubten schon, ihre Nerven würden mit ihnen durchgehen. 

Verwundert, den Tod schon nahen sehend, schweiften ihre Blicke in alle Richtungen, als sie wie erstarrt etwa 15 Indianerinnen erspähten, beladen mit bunten Körben, die geradewegs singend auf den zerlumpten Trupp zuhielten. 

Die Soldaten wussten nicht, was das zu bedeuten hatte. War dies nur ein Ablenkungsmanöver vor den gleich heranstürmenden roten Kriegern? 

War das das Ende? 

Egal, sie waren einfach zu schwach und zu müde, setzten sich auf den Boden und erwarteten ihr unvermeintliches Schicksal. 

Doch dies kam anders als sie dachten. Die Indianerinnen reichten den Soldaten kräftige Speisen und frische Obstsäfte, entfachten ein Feuer zum Wärmen und kümmerten sich rührend um deren Wunden. 

Nach etwa einer Woche waren die Soldaten wieder so gekräftigt, dass man sie hilfsbereit weiterführte und sie sicher bis zu dem gesuchten Fort begleitete. Die Rettung des Indianerkindes rettete somit das Leben aller acht Engländer. 

Eine gute Tat kommt eben immer als solche zurück. Die acht Soldaten quittierten den Militärdienst und waren fortan Vermittler zwischen Indianern und Weißen, immer bemüht, Menschlichkeit und Gerechtigkeit walten zu lassen. So wurde viel unnützes Blutvergießen verhindert und noch heute besingt man an den Lagerfeuern der Indianer die Taten der acht gerechten Bleichgesichter.