Der frische Wind versuchte vergeblich die dichten Nebelschwaden in jener Herbstnacht zu vertreiben. Die Hände der alten Frau waren bereits ganz klamm und vermochten kaum noch den Handwagen zu ziehen, der ihre paar Habseligkeiten fasste.
Sie war auf dem Weg zur fernen Stadt Danzig, in der Hoffnung dort eine Bleibe zu finden. Die feinen Herrschaften hatten sie aus ihren Diensten entlassen.
Weil ihre Arbeit nicht mehr so flott von der Hand ging wie bei einer Zwanzigjährigen, gedachte man, sie einfach abzuschieben. Dreißig Jahre lang hatte sie geschrubbt und gekocht, war den Herrschaften immer zu Diensten.
Jetzt wo sie alt und müde, ihre Finger von Gicht gezeichnet waren, empfand man sie nur noch als lästig, ja als Peinlichkeit in solch prunkvollem Hause.
Verbittert dachte sie an all die Jahre der Entbehrung, während sich die gräfliche Familie in Verschwendungssucht übte. Dennoch akzeptierte sie ihr Schicksal wie es kam, zuversichtlich und tapfer.
Gestützt durch diesen unerschütterlichen Glauben an eine höhere Gerechtigkeit war sie schon zwei Tage zu Fuß unterwegs. Mehrmals begegneten ihr feine Kutschen von wohlhabenden Leuten, aber keiner nahm sie mit auf ihrer beschwerlichen Reise.
Sie winkte einigen zu, in der Hoffnung, man würde die Pferde anhalten und sie einsteigen lassen, worauf die Kutscher den Pferden erst recht die Peitsche gaben, um eine anscheinend unangenehme Situation zu vermeiden.
Am dritten Tage musste die Alte vor Erschöpfung am Straßenrand ausruhen, als ein kleiner unscheinbarer Handelskarren mit zwei gepflegten Pferden neben ihr anhielt.
„Gute Frau, was ist, habt Ihr noch weit, oder kann ich Euch ein Stück des Weges mitnehmen?“, lautete die warmherzige Stimme des Wagenlenkers.
Dankbar blickte sie den jüngeren Mann an, der auch sofort von seinem Bock sprang, ihr Gepäck in den Wagen hievte und ihr beim Aufsteigen half.
„Hier nehmt, eßt und trinkt“, lud er sie ein und reichte ihr dabei ein Leib Brot sowie Wein und Speck.
Beherzt griff sie zu und ließ sich jeden Bissen und jeden Schluck genüsslich munden.
Selten hat ihr ein Mahl so gut getan.
„Wohin des Weges, Mütterlein?“, fragte der Händler.
„Nach Danzig, einer Obdach wegen.“
So begann ein lebhaftes Gespräch, wo jeder dem anderen frei sein bisheriges Schicksal ausbreitete. Die Stunden vergingen wie im Fluge und die Alte erwies sich als keineswegs wortkarg, sondern als pfiffige Frau mit viel Lebensweisheit.
Dies imponierte dem hilfsbereiten Handelsmann so sehr, dass er, als sie zuhause, bei seiner Gemahlin und den drei Kindern, eintrafen, fragte, ob sie nicht bleiben möge.
Eine Unterkunft sowie Verpflegung und ein kleines Entgelt könne er ihr geben, für ein wenig Hilfe im Haus und mit den Kindern.
So fand die Alte ein neues Heim, eine leichte Arbeit und ehrliche Anerkennung für ihre Dienste.
Noch bevor sie im hohen Alter starb, schenkte sie der Familie aus Dank ein sehr altes Buch mit geheimnisvollem Inhalt.
Das Wissen, dass der Familie durch diese Schrift eröffnet wurde, machte sie zu angesehenen und zufriedenen Leuten.
Was aber in dem Büchlein stand, erfuhr niemand sonst, die Bedeutung blieb geheim.
So lebte die Familie des Händlers glücklich bis an ihr Lebensende.
Hingegen verspielte die Familie des Grafen, dem ehemaligen Dienstherren der Alten, leichtfertig ihr gesamtes Vermögen und verlor im Streit alle Güter und Ländereien.
So findet am Ende doch jeder seine persönliche Gerechtigkeit.