TAO

 

In den großen Weiten des fernen Ostens lag mitten in einem wunderschönen Garten ein schlichtes Haus aus Holz und Stein.

Der zauberhafte Park, mit Fischteichen und ausladenden, uralten Bäumen geschmückt, war so vom üppigen Grün umgeben, daß man nur schwerlich hineinzuschauen vermochte.

Eine Unzahl kleinerer Tiere tummelte sich furchtlos auf dem satten Grün der Wiesen. Alles fügte sich harmonisch ineinander.

In diesem Garten Eden wohnte ein ehrwürdiger Weiser, zurückgezogen, jedoch weit über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt und geachtet. Man erzählte sich über ihn die merkwürdigsten Geschichten, teils mit Anerkennung und Respekt aber auch mit einer gewissen Furcht. Eine Furcht, die nicht richtig definiert werden konnte, weil niemand so richtig wußte, wie und wovon der Weise eigentlich lebte.

Man sah nur die kleinen Gruppen von Besuchern, die ihn dann nach Stunden oder Tagen glücklich und lachend wieder verließen. Diese Ungewißheit bot reichlich Stoff für Vermutungen und Erzählungen, denen man in den Tavernen gespannt lauschte. 

Eines Tages machte das Gerücht die Runde, man habe einige Fremde am Bach belauscht, die davon sprachen, mit welch einem Reichtum sie der Weise bedacht habe. Die Vorstellung von Gold und Juwelen machte schnell die Runde und lockte hellhöriges Gesindel an. Verwegene Burschen, die sich heimlich umhorchten, wo und wie der Wohlhabende wohnen würde. 

Kurz entschlossen, sich seines Reichtums zu bemächtigen, durchquerten vier dieser Lumpen den nächtlichen Park und drangen ungehindert durch die offene Haustür. Wie erstaunt waren sie jedoch, als sie die einfache aber behagliche Ausstattung des vor ihnen liegenden Raumes sahen. Kein Prunk, kein Silber, kein Luxus drängte sich ihnen auf. Schlichte Stühle und ein runder Tisch füllten die Raummitte.

Im Kamin knisterte leise ein wärmendes Feuer und erhellte die stattliche Silhouette eines Mannes mit langem weißem Haar, der die Eindringlinge, als habe er sie erwartet, mit ruhiger und höflicher Stimme zum Platznehmen aufforderte. 

Verblüfft schauten die Vier sich an, bis der Verwahrloseste von ihnen sich besann und den Ehrwürdigen anbrüllte: „Gib Dein Gold und Deine Juwelen heraus!“ 

Liebevoll lächelnd blickte der Weißhaarige den Gesellen offen in die Augen und erwiderte: „Schaut Euch um und nehmt, was ihr begehrt, doch Gold und Juwelen besitze ich nicht!“ 

„Du lügst!“, schrie ein anderer, „alle sprechen von Deinem Reichtum, von Deinem Gold, Deinen Edelsteinen! Sprich, wo hast Du sie versteckt, wo ist das Tor zu deiner Schatzkammer?“ 

Im gleichmütigen aber keineswegs provozierenden Ton antwortete der Besonnene: „Wo in dieser Hütte seht ihr Prunk und Geschmeide? Mir bedeuten materielle Dinge nichts, das Tor von dem Du sprichst sind die Bretter vor deinem Kopf und der Schatz ist nicht materieller sondern geistiger Natur!“ 

„Elender“, zischte ein Widersacher, „wage nicht, uns zu verspotten, sonst kitzele ich Dir mit meinem Dolch die Wahrheit heraus!“ 

„Die Wahrheit? was ist die Wahrheit?“, wendete der Ehrwürdige fragend ein. „Ist die Wahrheit für Euch Geld und Gold?“ Ihr betet den Mammon an, einen Götzen, anstatt Euch von seinem Einfluss zu lösen. Eure Gier macht Euch blind, Ihr macht Euch selbst zu Gefangenen und seht nicht, was eigentlicher Reichtum bedeutet. Derjenige ist reich, der sich frei macht von dem Verlangen nach weltlichen Dingen, frei von Begierden und Zwängen, von Ängsten und Sorgen um das Morgen. Was nützen Euch Juwelen, wenn Ihr ständig in der Angst leben müsst, dass man sie Euch entreißen könnte. Unterlasst das Streben nach diesen weltlichen Dingen, sie machen Euch nicht glücklich, Ihr werdet keine Freunde finden und schon gar keine Liebe, die der wahre Schatz der Welt ist – sie ist TAO. Für Euch bestehen Schätze nur aus materiellen Dingen!“ 

Verwirrt über den gedämpften Ton der Stimme und die ruhige charismatische Ausstrahlung des Weisen kamen die vier Gauner ins Grübeln. Beeindruckt und in der Erkenntnis, hier kein Geld zu finden, machten sie kehrt und ließen von ihrem Vorhaben ab, den Ehrwürdigen weiter zu bedrängen. Noch lange hing den sonst so hartgesottenen Burschen dieses Erlebnis nach. Einer von ihnen war so von der Würde des Weisen beeindruckt, dass er ihn später nochmals aufsuchte, aber nicht um ihn zu berauben, sondern um mehr vom wahren Reichtum, mehr von TAO zu erfahren.